Von Reutter zu RECARO: 115 Jahre Sitzkompetenz
Weltweit verbindet man mit RECARO heute Sitzkompetenz in vier unterschiedlichen Geschäftsfeldern: Automotive, Kids, Aircraft Seating und Gaming. Doch nicht immer war der Sitzspezialist so breit aufgestellt. Alle Geschäftsbereiche haben ihre Wurzeln in der „Stuttgarter Carosserie- und Radfabrik“, die Wilhelm Reutter vor 115 Jahren in Stuttgart ins Leben rief.
Die Erfolgsgeschichte startete im Jahr 1906, als Wilhelm Reutter sein Unternehmen in Stuttgart gründete. Der gelernte Sattler sah in der Herstellung von Pferdekutschen keine dauerhafte Zukunft, nachdem Gottlieb Daimler seinen ersten Motorwagen vorgestellt hatte und die zunehmende Begeisterung für das Automobil sich in der Vielzahl neuer Hersteller widerspiegelte. Im wirtschaftlichen Umfeld der noch jungen Automobilbranche erkannte er gute Chancen für sein Unternehmen und fokussierte sich dabei auf die Herstellung von kompletten Karosserien und Innenräumen.

1923 Innenansicht Austro-Daimler Coupé
1926 Innenansicht Mauser-Limousine,
Typ 630
Der Betrieb entwickelte sich positiv: Bereits 1908 beschäftigte er in der Augustenstraße im Stuttgarter Westen 20 Mitarbeiter verschiedenster Gewerke – inzwischen war auch Wilhelm Reutters Bruder Albert als Teilhaber und kaufmännischer Geschäftsführer an Bord. Von 1909 fertigten sie unter der Bezeichnung „Stuttgarter Karosseriewerk Reutter & Co.“ Aufbauten für nahezu alle namhaften Hersteller der Zeit. Mit „Reutter’s Reform-Karosserie“ machte sich das Unternehmen auch überregional schnell einen Namen: Es patentierte einen Vorläufer des heutigen Cabriolets. Die Kunden schätzten dieses neuartige Klappverdeck-System – nun mussten sie sich nicht mehr zwischen einer geschlossenen und einer rein offenen Fahrzeugvariante entscheiden.

„Klappverdeck mit Vordach“
In den 1920er Jahren erfolgte die Umstellung von einer reinen Einzelfertigung hin zur Serienfertigung automobiler Karosserien: Nach wie vor wurden Aufbauten für Privatkunden hergestellt, Hauptkunden waren nun jedoch Automobilfabrikanten wie Daimler in Stuttgart und Benz & Cie. in Mannheim sowie nach Gründung der Daimler-Benz AG mit eigenem Karosseriewerk zunehmend auch die Chemnitzer Wanderer-Werke. Zum Lieferumfang gehörte immer auch die Anfertigung der jeweiligen Innenausstattung inklusive der Sitze, stets individuell nach Kundenwunsch ausgestaltet.
Im Auftrag von Professor Ferdinand Porsche fertigte Reutter ab 1931 Aufbauten und ab 1932 verschiedene Vorläufer und Prototypen des späteren Volkswagens. 1936 expandierte die Firma und nahm 1937 ein zweites Werk in Stuttgart-Zuffenhausen in Betrieb, ein Jahr später startete Porsche mit seinem neuen Werk auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Während des zweiten Weltkriegs schrumpfte die Belegschaft und wurde für den Bau von Flugzeugteilen herangezogen.
1949 erhielt Reutter den Auftrag zum Bau von zunächst 500 Sportwagen des Typs „Porsche 356“. Die Karosserien der Coupés und Cabriolets entstanden bis 1953 bei Reutter in der Augustenstraße und später im Reutter Werk 2 in Zuffenhausen. Insgesamt lieferte Reutter bis 1963 Karosserie und Interieur für rund 80 Prozent aller jemals gebauten Porsche 356. Die Firma tüftelte dabei auch immer weiter an Innovationen für den Innenraum: So meldete sie im Jahr 1953 den Liegesitzbeschlag zum Patent an, die in den bei Reutter gebauten Porsche-Karosserien zum Einsatz kamen. Diese Rasten-Hebel-Beschläge zielten darauf ab, den Fahrkomfort zu erhöhen. Damit konnte die Rückenlehne nahezu stufenlos eingestellt werden. Der Sitz war nicht nur perfekt auf den Fahrer justierbar, er brachte auch den Beifahrer ausgeruht ans Ziel.
Nach verantwortlicher Konstruktion des 356er-Nachfolgers T8/901 (später 911) verkaufte Reutter zum 1. Dezember 1963 die Karosserieproduktion in Zuffenhausen mit knapp 1.000 Mitarbeitern an Porsche. Das Ende als Karosseriehersteller bildete zugleich den Startschuss für die Fokussierung auf die Sitzkompetenz: Aus REutter und CAROsserie wurde der Sitzspezialist RECARO. Etwa 250 im Unternehmen verbliebene Mitarbeiter konzentrierten sich nun am Stammsitz in der Stuttgarter Augustenstraße auf die Produktion von Autositzen und Zubehörteilen.
Porsche verpflichtete sich, die nächsten zehn Jahre Sitze exklusiv von dem neuen Geschäftspartner zu beziehen. Neben den Sitzen für Porsche lieferte das Unternehmen als Systemlieferant komplette Sitze und Bauteile wie den Liegesitzbeschlag an alle großen Automobilhersteller.
1953 Sitzaufbau mit Metallfedern und Rosshaar
1953 Der Liegesitzbeschlag wurde zum wichtigen wirtschaftlichen Standbein
1964 Früher Werbeprospekt
Bereits 1965 gelang dem jungen Unternehmen RECARO ein Durchbruch, als es den Sportsitz erstmals vorstellte: Mit Schaumstoffpolsterung, Seitenhalt und ergonomischer Rückenkontur revolutionierte dieses Produkt das automobile Sitzen und rückte Ergonomie und Sicherheit in den Fokus. Sitze konventioneller Serienproduktion waren bis dahin hauptsächlich aus Metallfedern und Rosshaarpolsterung aufgebaut; beim Sportsitz kompensierte eine moderne Schaumstoffpolsterung die Stöße der Fahrbahn. Der Fahrer saß punktgenau im Sitz und konnte sich voll und ganz auf den Verkehr konzentrieren, denn wer gut sitzt, fährt besser. Dank einer geeigneten Konsole als Adapter für den Einbau in verschiedene Fahrzeugtypen war der RECARO Sportsitz der erste Sitz, der herstellerunabhängig als Nachrüstsitz in verschiedenste Autos eingebaut werden konnte.
1964 Technische Zeichnung für den „Beschlaganbau“
1965 Der erste Nachrüstsitz
1966 Der Sportsitz kam auf den Markt
Fortan machte sich RECARO mit Autositzen für die Erstausrüstung, den Nachrüstbereich und den Motorsport, aber auch mit speziellen orthopädischen Sitzen einen Namen. 1972 kamen Flugzeugsitze hinzu, der Grundstein für RECARO Aircraft Seating war gelegt. Mit dem weltweit ersten mitwachsenden Kindersitz gelang 1998 der Schritt in eine weitere Branche: Heute zählt RECARO Kids zu den renommiertesten Herstellern von Kindersitzen und -wagen. Seit 2018 setzt RECARO Gaming zudem neue Maßstäbe im Bereich Gaming-Sitze.